Nur zeitweise geschockt: Die Amokfahrt von Berlin und die Medien
Einen Tag nach der tödlichen Amokfahrt vor der Berliner Gedächtniskirche rollt der Verkehr am Ku‘damm wieder wie gewohnt. Der Vorfall zeigt bedenkliche Entwicklungen im Mediengeschäft auf.
Am Tag nach der schrecklichen Tat hat die Hauptstadt den Schock wieder abgeschüttelt. Autos und Lastwagen fahren auf der Tauentzienstraße unweit der Berliner Gedächtniskirche über gelbe Markierungen. Ein gutes Dutzend davon ist kreisrund, hier lagen am Mittwoch die teils schwer verletzten Schülerinnen und Schüler aus Hessen, die von einem offenbar psychisch gestörten Deutsch-Armenier mit seinem Auto praktisch vom Bürgersteig gefegt wurden. Eine längliche Kennzeichnung zeigt die Stelle, an der ihre Lehrerin starb. Sie wurde bei der Amokfahrt des 29-Jährigen getötet, ein paar wenige Blumen bekunden Mitgefühl. Sie fallen aber zunächst kaum auf, denn direkt neben der Markierung steht ein gelber Kleinbus am Straßenrand und wirbt um Fahrgäste für eine Städtetour.
Wer sich gut 24 Stunden nach dem Vorfall dem Tatort nähert, wird zunächst auf eine große Menschentraube aufmerksam. Es sind dies nicht Trauernde oder Schaulustige, sondern Kaufwillige, die vor einem Sportgeschäft auf Einlass warten. Womöglich kommt gerade ein neuer Sportschuh auf den Markt, das Leben läuft weiter. Die Kundschaft weiß vielleicht gar nicht, dass der mutmaßliche Täter an dieser Stelle tags zuvor einen kleinen Renault an der Straßenecke Ku'damm und Rankestraße auf den Bürgersteig und in eine Menschengruppe lenkte. Erst an der nächsten Straßenecke kam der Wagen zum Stillstand, offenbar – darauf deuten weitere Markierungen auf der Straße hin – wurde er von einem Autofahrer abgedrängt, der nach rechts in die Marburger Straße einbiegen wollte. Der Amokfahrer krachte in das Schaufenster einer Parfümerie, am Donnerstagvormittag ist ein Glaser bereits dabei, eine neue Schaufensterscheibe einzusetzen. Zettel weisen darauf hin, dass die Filiale „vorübergehend geschlossen“ ist.
Vor der Filiale haben sich Kamerateams aufgebaut. „Aufwischen“ wird das im Fachjargon genannt, man schaut routiniert, ob es noch ein paar Bilder gibt. Viele sind es nicht mehr. Eine Mitarbeiterin der Parfümerie räumt ein paar Lippenstifte weg, die auf den Boden gefallen sind. Rechts und links der zerstörten Schaufensterscheibe wirkt der Laden noch erstaunlich heile. Polizei ist nicht mehr zu sehen, die Straßensperrung, die zunächst mindestens bis Mittag angekündigt war, ist längst aufgehoben.
US-Sender verbreiten zunächst falsche Meldungen
Ein amerikanischer Tourist fragt, was hier passiert sei. Man klärt ihn auf, er nickt verständnisvoll, sagt: „It’s our daily business in the US“ – in den USA sei so etwas Tagesgeschäft. Der Reporter eines großen amerikanischen Nachrichtensenders hält einem sein Mikro vor die Nase, er sammelt Vox-Pops, O-Töne also. Der Mann spricht kein Deutsch und man fragt sich, wie er seriös Informationen sammeln will, wenn er gar nichts versteht. Aber vielen, auch das hat diese Horrortat gezeigt, kommt es gar nicht so sehr auf den Wahrheitsgehalt an. Hauptsache, man ist irgendwie dabei, wird im Netz geklickt. Der Twitter-Daumen ist oft schneller als das Gehirn.
Ein anderer US-Sender etwa verbreitet bereits unmittelbar nach der Tat erste Nachrichten, ohne eigene Reporter vor Ort zu haben. Die müssen erst von Paris eingeflogen werden, kommen in Berlin an, als alles schon längst vorbei ist. Und so gehen dann zunächst unwahre Meldungen von vielen Toten und mindestens 30 Schwerverletzten um die Welt. Mancher Bericht macht aus der Amokfahrt ein Attentat mit islamistischem Hintergrund und sorgt für einen Schwall an Ausländerhetze im Internet. Der eine schreibt von der anderen ab, Hörensagen wird zur Gewissheit erklärt, Falschmeldungen werden nicht berichtigt.
Kein Vergleich mit Breitscheid-Attentat
Keine Frage, dass viele Menschen die Bilder vom Breitscheidplatz im Kopf haben, wo im Dezember 2016 ein islamistischer Attentäter einen Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt steuerte – eine gezielt vorbereitete Tat, die 13 Menschen das Leben kostete. Viele Berlinerinnen und Berliner erinnern sich aber auch an eine Amokfahrt auf der Stadtautobahn A100 im August 2020, als ein offenbar geistig gestörter Autofahrer drei Motorradfahrer rammte. Oder an den SUV-Unfall 2019, bei dem vier Fußgänger getötet wurden, nachdem der Fahrer wegen eines Krampfanfalls die Kontrolle über seinen fast zwei Tonnen schweren PS-Boliden verlor.
Seriöse Medien stemmen sich mit den Fakten gegen die vielen Mutmaßungen, folgen den Anweisungen und Bitten um Mäßigung der Berliner Polizei, die an diesem schlimmen Tag die Lage bemerkenswert gut im Griff hat. Die Beamtinnen und Beamten teilen nur das mit, was sie wissen. Später verkündet Sebastian Büchner, der Sprecher der Staatsanwaltschaft, dass der Fahrer in eine psychiatrische Anstalt gebracht werden soll. Von einer paranoiden Schizophrenie ist die Rede und davon, dass er vorsätzlich, aber im Zustand verminderter Schuldfähigkeit handelte. Anhaltspunkte für eine Terrortat gibt es nicht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Mord sowie versuchten Mord in 31 Fällen vor.
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