Wie ChatGPT die Reisebranche durcheinanderwirbeln wird
Künstliche Intelligenz könnte im Internet Angebote für eine Italienreise filtern. Oder bei einer Flugverspätung einen bereits reservierten Tisch umbuchen. Noch sind das Visionen.
Wohin soll 2024 die Reise gehen? Stadt? Land? Meer? Wellness-Urlaub oder Club-Urlaub? Kreuzfahrt oder Campen? Flug oder eigene Anreise? Früher wälzte man dickleibige Reisekataloge. Heute sucht man im Internet nach Urlaub: Unterkünfte, Flüge, Mietwagen.
44 Prozent der Deutschen buchen laut einer Erhebung des Branchenverbands Bitkom ihren Urlaub im Internet. Doch wer schon mal online gebucht hat, weiß: Das Angebot ist erdrückend, die Suche zäh, und nach stundenlanger Recherche ist man dem Reiseziel keinen Schritt nähergekommen. Allein für eine 14-tägige Pauschalreise nach Italien bestehen nach Schätzung von Reiseexperten 700 Millionen Variationsmöglichkeiten. Eine Stichwortsuche auf Google führt oft nicht weiter, und auch für Reiseanbieter lohnt es sich immer weniger, in diesem diffusen Suchumfeld Anzeigen zu schalten. Touristikunternehmen setzen daher verstärkt auf Künstliche Intelligenz: Der intelligente Reiseagent soll eine Schneise durch das Angebotsdickicht schlagen und dem Nutzer individualisierte Angebote unterbreiten.
Bei Expedia wühlt sich die KI durch die Datenbank
So hat die Buchungsplattform Expedia einen Plug-in für ChatGPT entwickelt. Das Sprachmodell, das mit 300 Milliarden Textbausteinen, sogenannten Tokens, gefüttert wurde, wühlt sich durch den Reisekatalog bzw. die Datenbank und puzzelt nach Wunsch des Nutzers passgenaue Reisebausteine zusammen. Wer etwa einen Direktflug von Frankfurt nach New York mit einem Stadthotel sucht, erhält binnen weniger Sekunden verschiedene Angebote.
Der Vorteil: Der Nutzer hat weniger Stress und Zeitaufwand. Man muss nicht seine Reisedaten in Formularfelder eingeben, sondern kann einen kurzen Text in ein Chatfenster eingeben – den Rest erledigt der virtuelle Reiseassistent. Statt wie Google mit einem Suchroboter, einem sogenannten Webcrawler, das Netz nach Links zu durchforsten, errechnet ChatGPT eine Wahrscheinlichkeit, mit der ein Wort auf das nächste folgt. Und diese Technik lässt sich nicht nur bei der Recherche von Flügen und Hotels nutzen, sondern auch bei der Beratung – also das, was Reisebüros bislang von Buchungsportalen abhob.
Wer den Expedia-Plug-in von ChatGPT fragt, ob sich für die Flitterwochen nach Hawaii eher ein Aufenthalt auf der Insel Maui oder Kauai empfiehlt, erhält vom virtuellen Reiseassistenten nebst einer Gratulation zum Honeymoon einen ausführlichen Beratungstext. Unterkunft, Restaurants, Freizeitaktivitäten.
Einsatz von KI kann künftig auch Reisen verteuern
Buchungsplattformen setzen schon länger auf Machine-Learning-Algorithmen, etwa bei der dynamischen Preisgestaltung (dynamic pricing). Wenn der Computer feststellt, dass Nutzer an verregneten Sonntagen häufig nach Pauschalreisen in Südeuropa suchen, dreht er an der Preisschraube – was dazu führen kann, dass man für einen Flug das Doppelte des Sitznachbarn bezahlt. Künstliche Intelligenz aber könnte die Art und Weise, wie Verbraucher Urlaub buchen, tiefgreifend verändern – und die gesamte Tourismusbranche auf den Kopf stellen. Reisebüros, die schon jetzt unter der Konkurrenz von Online-Anbietern leiden, könnten in Zukunft ganz verschwinden. Laut einer Studie von US-Ökonomen („How will Language Modelers like ChatGPT Affect Occupations and Industries?“) ist die Arbeit von Reisebüros durch ChatGPT im Vergleich zu anderen Berufen deutlich exponierter.
Aber auch das klassische Suchgeschäft wird durch KI disruptiert – spätestens, seit Microsoft angekündigt hat, ChatGPT in seine Suchmaschine Bing zu integrieren. Auf die Frage „Was ist besser für eine Familie mit Kindern unter drei Jahren und einem Hund, der Bryce Canyon oder der Arches Nationalpark?“ spuckt die KI recht detaillierte Informationen aus.
Apps könnten künftig genaue Wartezeiten prognostizieren
Google präsentierte zudem ein neues Feature namens „Help me write“, eine Schreibassistenz, die bei einem Flugausfall automatisch eine E-Mail mit der Forderung nach einer Entschädigung an die Fluggesellschaft formuliert. Das Tool, eine Weiterentwicklung der Smart-Compose-Funktion, kann sogar den Ton des Schreibens modulieren.
Das Versprechen, durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz Schwierigkeiten im Reiseablauf zu reduzieren, könnte sich auch nachteilig auf das Geschäftsmodell von Flughäfen auswirken, schreiben die Ökonomen Ajay Agrawal, Joshua Gans und Avi Goldfarb in ihrem Buch „Power and Prediction“. Der Grund: Passagiere reisen in der Annahme langer Wartezeiten bei der Gepäckabfertigung und Sicherheitskontrolle früher an und verbringen die Zeit dann mit Konsum. „Versteckte Unsicherheit“ nennen das die Ökonomen. Wenn jedoch Apps auf Basis von Echtzeitdaten die genaue Wartezeit prognostizieren, müssten Fluggäste nicht mehr so lange warten und würden ergo weniger Zeit mit Konsum verbringen. Und das wiederum würde den Geschäften schaden, die gar kein Interesse an reibungslosen Abläufen haben.
Auch das ein Zukunftsmodell: Wenn der Flug Verspätung hat, könnte der smarte Reiseagent automatisch eine E-Mail an die Autovermietung schicken und den reservierten Tisch im Restaurant auf eine spätere Uhrzeit umbuchen. Ein solcher Service hat jedoch seinen Preis: Damit die KI die Reise organisieren kann, benötigt sie unter anderem Zugriff auf Kalenderfunktion und E-Mail-Postfach. Bevor der Koffer gepackt ist, sind die persönlichen Daten bereits um den halben Globus gereist.
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