Sicherheit auf den Schienen: "Stellwerke aus der Vorkriegszeit"
Der Bahnunfall in Reichertshausen ging noch glimpflich aus. Nun bleiben die Fragen: Warum scheint es in Bayern so oft zu krachen? Bahn-Experte Markus Hecht erklärt.
Herr Hecht, am vergangenen Freitag sind bei Reichertshausen im Landkreis Pfaffenhofen zwei Züge seitlich kollidiert, sieben Menschen wurden dabei verletzt. Als Leiter des Fachgebiets Schienenfahrzeuge an der Technischen Universität Berlin haben sie den Vorfall genau betrachtet. Wie knapp sind die Insassen denn einem katastrophalen Zusammenstoß entgangen?
Markus Hecht: Da war noch ein ziemlich großer Abstand. Daran, dass kein Wagen umgestürzt ist, sieht man, das die Geschwindigkeit noch recht gering war*. Da hätte viel schiefgehen müssen, und es wäre eine höhere Energie nötig gewesen, um ein schweres Ereignis zu erzeugen.
Eine Möglichkeit, Unfälle zu verhindern, sind Schutzweichen – das sind Weichen, mit denen man Züge wie eine Notfallspur für Lkws ableiten und stoppen kann. Die hat es an der Unfallstelle sogar gegeben, doch der Zug wurde nicht dorthin umgeleitet. Eine weitere Maßnahme, die Sie anlässlich des jüngsten Unfalls vorgeschlagen haben, ist, verstärkt auf sogenannte Entgleisungsweichen zu setzen, die Züge vor einer Kollision zum Entgleisen bringen. Aber was kann man denn zum Unfall schon sagen, wo lag der Fehler und was hätte sonst noch helfen können?
Hecht: Eigentlich wird so etwas durch die Zugsicherung vermieden, die die Befolgung der Signale überwacht. Die kann aber defekt sein oder überbrückt werden – durch dieses Überbrücken sind diverse Zugunfälle entstanden, 2016 in Bad Aibling etwa oder im vergangenen Jahr im Müchner S-Bahn-Netz. Der Grund muss aber hier noch geklärt werden.
Wie arbeitet man einen solchen Unfall denn auf?
Hecht: Auf Druck der EU hat Deutschland eine unabhängige Behörde eingerichtet, die Bundeseisenbahnuntersuchungsstelle, die am Verkehrsministerium angegliedert ist. Der Nachteil ist, dass die Untersuchungsstelle oft sehr lange braucht: Nach EU-Vorschrift müsste sie innerhalb eines Jahres fertig sein, tatsächlich braucht sie aber oft drei bis fünf Jahre. Erst dann werden die Berichte der Öffentlichkeit zugänglich zur Verfügung gestellt. Jeder kann dann darauf zugreifen.
Sie haben Bad Aibling und den Unfall in der S-Bahn bei München vergangenes Jahr schon erwähnt. Hinzu kommen weitere Unglücke mit Todesopfern in Burgrain oder Soyen verganges Jahr. Woher kommt denn diese zumindest gefühlte Häufung an Zugunglücken gerade in Bayern?
Hecht: Absolut gesehen ist die Zahl der Unglücke immer noch relativ klein, und ich sehe diese kleine Häufung in Bayern als eher zufällig. Eine Ursache für Unfälle ist der unregelmäßige Betrieb, denn Fahrpläne sind so gestaltet, dass es gar keine Kollisionen geben kann. Würde man den Plan immer einhalten, bräuchte man gar keine Signale – auch wenn das natürlich eine Illusion ist. Es ist aber auch an vielen anderen Orten einiges passiert, wie man in den Jahresberichten der Eisenbahnunfalluntersuchungsstelle sehen kann. Darin sieht man, dass die Häufigkeit in Bayern leicht höher, aber nicht symptomatisch ist.
Vor allem unter CSU-Führung flossen stets die meisten Gelder aus dem Bundesverkehrsministerium nach Bayern, meist in den Straßenbau, allerdings auch mehr ins bayerische Schienennetz als in das anderer Länder. Müsste es in Bayern nicht deshalb eigentlich sogar sicherer sein als woanders?
Hecht: Bayern hat allerdings auch einen Rückstand in Sachen Elektrifizierung und das Hauptproblem ist, dass das Signalsystem so veraltet ist. Nur in einem Teil der Strecke zwischen München und Berlin ist das moderne europäische Zugsicherungssystem ETCS im Einsatz. An anderen Stellen gibt es noch uralte Stellwerke, die aus der Vorkriegszeit stammen. Diese sind zudem relativ personalintensiv, und sobald Menschen beteiligt sind, spielen diese auch als Fehlerquelle eine Rolle. So ist der Risikofaktor 1000 bis 100.000 mal so hoch.
Letzteres ist allerdings auch ein Problem in vielen anderen Regionen Deutschlands.
Hecht: Richtig. Weil die Anlagen auch nicht immer zuverlässig sind, muss bisweilen die Zugsicherung überbrückt werden – und häufig passieren Unfälle genau dann, wenn man wie hier die Technik manuell ausschaltet. Oft wird beim Überbrücken das vorgeschriebene Prozedere nicht eingehalten. Eigentlich muss dazu ein sogenannter Befehl aufgenommen werden, es muss schriftlich festgehalten werden, dass die Sicherung überbrückt werden darf. Aus Duselei oder weil man bereits entstandene Verspätungen nicht noch weiter anwachsen lassen will, passiert das aber nicht immer. Bei einem modernen Zugsicherungssystem könnte man das gar nicht tun, und Länder, die dieses schon nutzen, haben einen deutlichen Sicherheitsvorsprung, die Schweiz etwa oder Norwegen.
Und warum haben sich die Verantwortlichen bislang dagegen entschieden?
Hecht: Einen kurzfristigen Nutzen würde man dadurch wohl nicht sehen, langfristig wäre das allerdings anders – auch, weil man weniger Personal bräuchte. Das ETCS ist aber keine Investition, die sich in wenigen Jahren amortisieren würde, und heute will man immer kurzfristige Erfolge. Die Umrüstung wird nun schon seit Jahrzehnten vor sich her geschoben, Deutschland hinkt hier gewaltig hinterher.
* In einer früheren Version des Artikels stand, dass an der Unfallstelle Schutzweichen gefehlt haben, mit denen man Züge wie eine Notfallspur für Lkws ableiten und stoppen kann. Dabei handelte es sich um einen Irrtum. Am Bahnhof Reichertshausen sind diese Weichen vorhanden. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
Zur Person: Markus Hecht ist Professor an der Technischen Universität Berlin und Eisenbahningenieur. An der TU leitet er das Fachgebiet Schienenfahrzeuge am Institut für Land- und Seeverkehr. Er ist zudem Fachgutachter für Schienenfahrzeuge bei den Akkreditierungsstellen in Deutschland und der Schweiz.
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Anstatt Entwicklungshilfen nach Indien oder China zu zahlen, sollten wir mal unsere eigenen Baustellen regeln
Wahrscheinlich erkennt man erst dann, wie grotesk die Politik in Deutschland ist, wenn man diese Land von außen betrachtet. Es werden so hirnlose Prestigeojekte wie Stuttagert 21 politisch durchgepeitscht. Die wirklich wichtige Eiseninfrastruktur hingegen vergammelt und ist teilweise sogar lebensgefährlich.
Was hilft es, wenn man von einer Großstadt zur nächsten sich mit tunnelreichen Neubastrecken 20 Minuten Reisezeit spart, während anderorts in Ballungsräumen wieder einmal zigtausend Menschen wegen den üblichen Verspätungen nicht pünklich ihren Arbeitsplatz erreichen?
Was für ein Glück aber auch, dass der Börsengang der DB nie geklappt hat und die Infrastruktur nicht den Launen privater Investoren ausgeliefert ist.
Der vermeintliche Bahn-Experte sagt er habe den Unfall in Reichertshausen genau beobachtet und es gäbe keine Flankenschutzweichen. Auf den Bildern vom Unfallort erkennt man aber genau diese, genauso wie sie in den Gleisplänen eingezeichnet sind.
Ich würde mir einen anderen „Experten“ suchen …
Guten Tag, Sie haben recht mit Ihrem Einwand. Es wurde missverständlich wiedergegeben.
Wir haben das nun korrigiert. Freundliche Grüße